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Mentalisierung

 

„Having mind in mind“ – Peter Fonagy

 

Was ist Mentalisierung?

Mentalisierung bezeichnet die Fähigkeit, das Verhalten von sich selbst und anderen als Ausdruck innerer Zustände zu verstehen und zu interpretieren. Diese grundlegende Fähigkeit ermöglicht es uns, zu erkennen, dass unsere Gedanken, Gefühle und Absichten oft unsere Handlungen beeinflussen und dass auch andere Menschen solche inneren Zustände haben (Fonagy und Target, 2003).

 

Mentalisieren bedeutet, sowohl sich selbst als auch andere so zu sehen, wie sie wirklich sind. Es erfordert die Fähigkeit, sich in die Perspektive des anderen zu versetzen, um zu verstehen, wie er oder sie die Welt wahrnimmt. Doch diese Fähigkeit ist nicht immer einfach, da unsere Wahrnehmung oft von eigenen Vorurteilen oder Gedanken beeinflusst wird.

 

Ein Beispiel: Wenn jemand sehr selbstkritisch ist, könnte er fälschlicherweise annehmen, dass auch andere diese Haltung ihm gegenüber haben.

 

Ein großer Wert des Mentalisierens liegt in der Anerkennung und dem Verstehen, dass es unterschiedliche Perspektiven gibt, das heißt Menschen unterschiedliche Gefühle, Gedanken und Ansichten haben. Wenn jedoch eine Aussage mit absoluter Sicherheit getroffen wird, wie zum Beispiel „Die Person denkt immer nur an sich“, ist das Mentalisieren meist nicht mehr gegeben, weil eine bestimmte Perspektive als einzig gültig betrachtet wird (Bateman und Fonagy, 2016).

 

 

Wie erwerben wir die Fähigkeit zu Mentalisieren?

Die Fähigkeit zu mentalisieren – also Gedanken, Gefühle und Absichten bei sich selbst und anderen zu erkennen und zu verstehen – entsteht in einem Zusammenspiel aus Beziehung, Kommunikation und kognitiver Reifung.

 

Frühe Bindung: Kinder lernen Mentalisieren, wenn Bezugspersonen feinfühlig auf ihre inneren Zustände reagieren (Fonagy & Target, 2003).

 

Sprachliche und soziale Erfahrungen: Eine Schlüsselrolle beim Erwerb der Mentalisierungsfähigkeit spielt die Entwicklung von Sprache. In Gesprächen über Gefühle und Gedanken entwickeln Kinder zunehmend die Fähigkeit, mentale Zustände zu benennen und zu reflektieren (Bateman & Fonagy, 2016).

 

Theory of Mind & Empathie: Ab etwa dem 4. Lebensjahr verstehen Kinder, dass andere Menschen eigene Gedanken und Perspektiven haben. Diese kognitive Fähigkeit unterstützt das Mentalisieren. Der Aufbau von Empathie unterstützt den Prozess der Mentalisierung. Wenn ein Kind in der Lage ist, die Emotionen eines anderen nachzuvollziehen, entwickelt es zunehmend die Fähigkeit, das Verhalten anderer in einem emotionalen Kontext zu deuten und zu verstehen (Decety und Jackson, 2004).

 

Erwachsenenalter & Therapie: Auch im späteren Leben lässt sich Mentalisierungsfähigkeit weiterentwickeln – etwa durch Selbstreflexion oder therapeutische Gespräche, z. B. in der mentalisierungsbasierten Therapie (MBT) (Bateman und Fonagy, 2006).

 

 

Warum ist Mentalisierung wichtig?

Mentalisierung ist essenziell für gesunde zwischenmenschliche Beziehungen. Sie hilft uns, die Perspektiven anderer Menschen nachzuvollziehen, Missverständnisse zu reduzieren und empathisch zu reagieren. Besonders in Konfliktsituationen oder bei intensiven Emotionen ist die Fähigkeit zur Mentalisierung entscheidend, um nicht nur das Verhalten des anderen zu verstehen, sondern auch unsere eigenen Gefühle und unser eigenes Verhalten besser zu regulieren (Bateman und Fonagy, 2016). Somit ist erfolgreiches Mentalisieren auch wichtig für unsere psychische Gesundheit (Brockmann, Kirsch und Taubner, 2022).

 

 

Unterscheidung zur Empathie

Empathie und Mentalisierung sind eng miteinander verbunden, aber sie unterscheiden sich in ihrer Definition und Funktionsweise. Beide Fähigkeiten spielen eine zentrale Rolle im zwischenmenschlichen Verständnis und in der emotionalen Intelligenz, aber sie fokussieren unterschiedliche Aspekte der Wahrnehmung und Reaktion.

 

Ziel: Empathie geht es in erster Linie um das Mitfühlen und Verstehen der Gefühle oder Perspektiven eines anderen.

Mentalisierung hingegen bezieht sich darauf, die inneren Zustände von Menschen zu interpretieren und die Komplexität hinter ihrem Verhalten und Denken zu erkennen.

 

Kognitive vs. emotionale Dimension: Empathie hat eine starke emotionale Dimension, da sie das Mitfühlen beinhaltet.

Mentalisierung ist mehr ein kognitiver Prozess, bei dem es um das Verstehen von Gedanken, Absichten und mentalen Zuständen geht.

 

Fokus auf eigene mentale Zustände: Während Empathie häufig auf die Wahrnehmung der Gefühle anderer abzielt, umfasst Mentalisierung auch die Fähigkeit zur Selbstreflexion, also das Verstehen der eigenen mentalen Zustände (Bateman und Fonagy, 2016).

 

 

Quellen

Bateman, A., & Fonagy, P. (2006). Mentalization-based treatment for borderline personality disorder: A practical guide.Oxford University Press.

Bateman, A., & Fonagy, P. (2016). Mentalizing in Clinical Practice. American Psychiatric Press.

Brockmann, J., Kirsch, H., & Taubner, S. (2022). Mentalisieren in der psychodynamischen und psychoanalytischen Psychotherapie: Grundlagen, Anwendungen, Fallbeispiele. Klett-Cotta.

Decety, J., & Jackson, P. L. (2004). The functional architecture of human empathy. Behavioral and Cognitive Neuroscience Reviews, 3(2), 71–100.

Fonagy, P., & Target, M. (2003). Mentalization and Borderline Personality Disorder. Journal of Personality Disorders, 17(4), 423-434.

 
 

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