Selbstmitgefühl - Eine Gegenbewegung zur Selbstkritik
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- 12. Nov.
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Selbstmitgefühl ist die Fähigkeit, sich selbst mit der gleichen Freundlichkeit, Fürsorge und Verständnis zu begegnen, wie man es mit einem guten Freund in schwierigen Momenten tun würde. Selbstmitgefühl besteht aus drei Hauptkomponenten: Selbstfreundlichkeit, Achtsamkeit und Gemeinsames Menschsein (Neff, 2003). Nach Neff (2003) bedeutet das „gemeinsame Menschsein“, dass wir uns bewusst sind, dass alle Menschen Leid erleben und Fehler machen. Dieses Bewusstsein hilft zu verhindern, dass wir uns in schwierigen Momenten allein oder abgesondert fühlen.
Zusammenhang mit Selbstwert und Selbstkritik:
Selbstmitgefühl ist die Gegenbewegung zu Selbstkritik. Viele von uns sind sehr selbstkritisch. Dieses Denken entsteht in der Kindheit und resultiert häufig daraus, wie unsere Bezugspersonen (meistens unsere Eltern) mit uns gesprochen haben. Unsere Eltern sind für uns als Kinder perfekt. Und wie sie durchs Leben gehen und was sie denken, ist für uns die Wahrheit. Das heißt: Wurden wir als Kinder ständig kritisiert, werden wir höchstwahrscheinlich auch selbstkritisch mit uns sein. Und das führt dazu, dass wir einen niedrigen Selbstwert entwickeln. Denn wenn wir gut wären und die Dinge besser machen würden, gäbe es ja keinen Grund uns zu kritisieren. Wir denken: „Ich bin nicht in Ordnung.“
Hinzu kommt, dass wir in unserer individualistischen Gesellschaft, lernen uns an gesellschaftlichen Standards und im Vergleich mit anderen zu messen und zu bewerten. Wer besser ist als andere, d.h. schöner, reicher, sportlicher usw. erfährt Anerkennung und wird belohnt (Neff, 2011).
Wie entwickeln wir Selbstmitgefühl?
Der erste Schritt ist zu lernen, sich einzugestehen, dass es dir nicht gut geht oder du ein Problem hast. Zunächst ist es wichtig, innezuhalten und in dich hineinzuspüren, was du gerade fühlst. Sei ehrlich mit dir und gestehe es dir auch ein, wenn du z.B. enttäuscht von dir selbst bist.
Im zweiten Schritt akzeptierst du diese Gefühle und wertest dich NICHT! für diese ab (Selbstakzeptanz). Im Gegenteil: Du kannst dir jetzt Trost spenden und empathisch und selbstfürsorglich sein (Neff, 2011), zum Beispiel durch verbale oder auch körperliche Strategien. Du kannst dir zum Beispiel sagen: „Ich verstehe, dass ich mich so fühle und es tut mir leid.“ Oder du kannst dich auch selbst umarmen.
Du nimmst hier die Rolle der tröstenden Person ein und bis gleichzeitig auch der Anteil, der Trost braucht. Man könnte auch sagen, du wirst dir bewusst über deine verletzten Anteile, die häufig mit unserem Inneren Kind in Verbindung stehen, und trittst bewusst in die Rolle deines Erwachsenen Ichs. Dieser Anteil weiß, was du in dieser Situation brauchst, und kann sich um die ungesehenen Bedürfnisse kümmern.
Wo liegt die Grenze zu einer „ungesunden Opferhaltung“?
Grundsätzlich kann uns Selbstkritik motivieren und dazu antreiben uns stetig zu verbessern. Aber diese Motivation entspringt Schmerz und Angst. Wir wollen Kritik und Abwertung durch uns selbst und andere vermeiden und versuchen deshalb, besser oder perfekt zu sein. Diese Angst vor potenziellen negativen Folgen, wenn wir nicht gut genug sind, bringt eine Reihe von Nachteilen mit sich: Wir stehen unter mehr Druck, wir sind nervöser und könnten sogar absichtlich schlechter performen, um mögliche Kritik zu rechtfertigen (Self-handicapping). Manche Menschen versuchen Selbstkritik ganz zu vermeiden und prokrastinieren daher häufig.
Langfristig wird Selbstkritik sogar als eine Form des (emotionalen) Selbstmissbrauchs angesehen. Wie bereits erwähnt, beeinträchtigt Selbstkritik unseren Selbstwert und kann starke Versagensangst begünstigen. Außerdem steht Selbstkritik in Zusammenhang mit Depressionen, Angstzuständen und geringerer Lebenszufriedenheit und Selbstwirksamkeit. Das führt dazu, dass wir uns schwerer oder weniger weiterentwickeln können.
Wie oben beschrieben, ist ein Schritt der Selbstfürsorge in die Rolle der tröstenden Person zu treten. Dieser Anteil ist nicht von den Gefühlen überwältigt und kann einen ruhigeren Blick von außen auf die Emotionen haben. Das gibt dir die Freiheit, dich nicht von deinen Gefühlen überwältigen und steuern zu lassen, neue Perspektiven einzunehmen und bewusst zu handeln. Du kreierst einen gesunden Abstand zur Situation und entwickelst Verständnis für die Situation und deine Bedürfnisse. Selbstmitgefühl ist nicht dein Freifahrtschein, dich im Selbstmitleid zu suhlen und in der Opferhaltung gefangen zu sein, sie gibt dir deine Handlungsfähigkeit zurück und hilft dir, Probleme erfolgreicher zu lösen (Neff, 2011).
Positive Auswirkungen von Selbstmitgefühl:
Zahlreiche Studien zeigen, dass Selbstmitgefühl mit einer geringeren Anfälligkeit für Depressionen, Angststörungen und Stress einhergeht (Neff, 2003; MacBeth & Gumley, 2012). In Partnerschaften zeigt sich eine größere Beziehungszufriedenheit und weniger Konfliktvermeidung (Yarnell & Neff, 2013). Selbstmitfühlende Menschen sind motivierter, Verantwortung zu übernehmen, gehen realistischer mit Fehlern um und bleiben beharrlicher in ihren Zielen, weil sie sich nicht durch Selbstkritik lähmen (Breines & Chen, 2012). Außerdem geht Selbstmitgefühl mit einer stärkeren Resilienz (Leary et al., 2007), niedrigeren Cortisolwerten (weniger Stresshormone), besserer Immunfunktion und gesünderem Schlaf einher (Stalder et al., 2017).
Quellen
Breines, J. G., & Chen, S. (2012). Self-compassion increases self-improvement motivation. Personality and social psychology bulletin, 38(9), 1133-1143.
Leary, M. R., Tate, E. B., Adams, C. E., Batts Allen, A., & Hancock, J. (2007). Self-compassion and reactions to unpleasant self-relevant events: the implications of treating oneself kindly. Journal of personality and social psychology, 92(5), 887.
MacBeth, A., & Gumley, A. (2012). Exploring compassion: A meta-analysis of the association between self-compassion and psychopathology. Clinical psychology review, 32(6), 545-552.
Neff, K. (2003). Self-compassion: An alternative conceptualization of a healthy attitude toward oneself. Self and identity, 2(2), 85-101.
Neff, K. (2011). Self-compassion: The proven power of being kind to yourself. Hachette UK.
Stalder, T., Kirschbaum, C., Kudielka, B. M., Adam, E. K., Pruessner, J. C., Wüst, S., Dockray, S., Smyth, N., Evans, P., Hellhammer, D., Miller, R., Wetherell, M. A., Lupien, S. J., & Clow, A. (2017). Reduction in cortisol stress reactivity after social but not attention-based mental training. Science Advances, 3(10), e1700495. https://doi.org/10.1126/sciadv.1700495
Yarnell, L. M., & Neff, K. D. (2013). Self-compassion, interpersonal conflict resolutions, and well-being. Self and identity, 12(2), 146-159.
